Wissenschaftler testen TV-Konsole und Wii Balance Board von Nintendo als Trainingsgeräte für Astronauten
Solarzellen, Taschenrechner, Klettverschlüsse – viele Entwicklungen der Weltraumtechnik sind längst Teil unseres Alltags geworden. Die Spielkonsole Wii, das Wii Balance Board und das Spiel Wii Fit Plus von Nintendo gehen jetzt den umgekehrten Weg: Technologien, die unseren Alltag bereichern, könnten in Zukunft bei Langzeit-Raumflügen als Trainingsgeräte für Astronauten eingesetzt werden. Das ergaben Tests, die Sportwissenschaftler der Universität Freiburg im Auftrag des Raumfahrtunternehmens Astrium und mit Unterstützung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. durchgeführt haben. Sie stellten heute in Freiburg die Ergebnisse von Parabelflügen vor, bei denen das Gleichgewichtstraining mit Wii unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit sowie der Anziehungskraft von Mond und Mars untersucht wurde.
Erst Anfang November ist in Moskau die 520 Tage dauernde Simulation einer Mars-Mission zu Ende gegangen. Sie sollte klären, wie eine Crew die Isolation während eines solchen Langzeitflugs verkraftet. Was bei einem Test auf der Erde allerdings nicht dauerhaft simuliert werden kann, ist die Schwerelosigkeit, die erhebliche Auswirkungen auf den menschlichen Körper hat: So verlieren Astronauten ohne gezieltes Training etwa 10 Prozent ihrer Muskelmasse in jedem Monat, den sie schwerelos im All verbringen. Auch die posturale Kontrolle, also die Fähigkeit den Körper im Gleichgewicht zu halten, nimmt bei längeren Aufenthalten im All ab. Daher sind Astronauten nach ihrer Rückkehr auf die Erde in ihrer Motorik oft erheblich beeinträchtigt. Selbst einfache Fertigkeiten wie Gehen oder Stehen bereiten ihnen Probleme und müssen mühsam wieder erlernt werden. Um diese negativen Auswirkungen zu vermeiden oder zu verringern, müsste auch der Gleichgewichtssinn – genau wie die Muskulatur – während einer lang andauernden Raummission regelmäßig trainiert werden.
Genau hier kommt Wii ins Spiel. In das Balance Board der Konsole sind Drucksensoren integriert, die jede Bewegung des auf ihr stehenden Spielers registrieren und sie in entsprechende Aktionen einer Spielfigur auf dem Bildschirm umsetzen. So lassen sich Wii-Spiele, etwa die unterhaltsamen Balanceübungen des Programms Wii Fit Plus, durch natürliche Körperbewegungen steuern. Ein Team um Professor Albert Gollhofer vom Institut für Sport und Sportwissenschaft der Universität Freiburg hat bereits 2009 in einer Studie festgestellt, dass die Übungen aus Wii Fit Plus mit dem Balance Board vergleichbare Effekte erzielen wie ein klassisches Gleichgewichtstraining.
Im Verlauf der Studie entstand die Idee, Wii und das Balance Board auf einem Parabelflug zu testen, bei dem für kurze Zeit Schwerelosigkeit herrscht. „Die logische Konsequenz eines positiven Testergebnisses wäre dann, ein solches System zum Beispiel auf der internationalen Raumstation ISS zu installieren“, sagt Professor Gollhofer. „Damit könnten die Astronauten neben Muskelkraft und Ausdauer auch das posturale Gleichgewicht trainieren.“ Bei Nintendo traf der Vorschlag der Freiburger Forscher auf offene Ohren. „Wir waren sofort begeistert von der Idee, Wii und das Balance Board im Weltraum in der Arbeit mit Astronauten zu testen“, sagt Dr. Bernd Fakesch, General Manager Nintendo Deutschland. „Ich kenne niemanden, der das Weltall nicht faszinierend findet. Von daher haben wir diese Fortentwicklung der ersten Studie sehr gerne unterstützt.“
Im Juni 2011 schritten die Forscher zur Tat: Sie installierten eine Wii samt Balance Board in einem Testflugzeug des Typs Airbus A300 ZERO-G (das Kürzel steht für Nullgravitation) und starteten vom Flughafen Bordeaux-Mérignac zu einer Serie von Parabelflügen. Dabei steigt die Maschine zunächst steil nach oben, um dann ebenso steil wieder nach unten zu sinken. In jeder Parabel, die das Flugzeug dabei beschreibt, herrscht für etwa 20 bis 30 Sekunden Schwerelosigkeit. Durch spezielle Flugmanöver mit unterschiedlicher Beschleunigung können die Piloten auch die Anziehungskräfte herstellen, wie sie auf Mond und Mars herrschen. Insgesamt hatten die Forscher während der Flugserie etwa 15 Minuten Zeit, Wii und das Balance Board unter differenzierten Bedingungen auf seine Tauglichkeit fürs All zu testen.
Aber die Ergebnisse sollen nicht nur für das Weltall, sondern auch für eine alltägliche Verwendung dieser Art von Training auf der Erde Anwendung finden. „Es gibt Personen, die aus medizinischen Gründen, z.B. aufgrund des Alters oder einer Hüftendoprothese, nicht mit dem vollständigen Körpergewicht trainieren können“, erläutert Dr. Ulrich Kübler, Leiter ISS Nutzungsbüro Astrium GmbH. „Wenn man aber mit Hilfe einer Entlastungsvorrichtung mit reduziertem Körpergewicht posturales Gleichgewichtstraining durchführen könnte und dadurch physiologische Anpassungsprozesse provoziert werden, dann ist das ein sehr interessanter Aspekt für die Rehabilitation und eine wertvolle Erkenntnis aus der Weltraumforschung für die praktische Anwendung im Alltag.“
Die detaillierte Auswertung des aufwändigen Experiments legten die Freiburger Sportwissenschaftler jetzt vor. „Es hat sich gezeigt, dass das Balance Board ein sensomotorisches Training auch unter reduzierter Schwerkraft oder in Schwerelosigkeit erlaubt“, fasst Professor Gollhofer die Ergebnisse zusammen. Womöglich gehört also das Wii-Spiel auf der Raumstation ISS bald ebenso zum Alltag wie in den Wohnzimmern von Millionen Videospiel-Fans. Und wer weiß: Wenn, wie geplant, in den 2030er Jahren die ersten Menschen zum Mars aufbrechen, wird vielleicht auch ein Nachfolgemodell der Wii an Bord sein.
Gerade angesagt